Der Fuchs und die Trauben

Oder wie wir uns selbst belügen!

Das Schöne an der Wahrheit ist ja ihre Flexibilität. Das wusste schon Äsop, der um 600 vor Christus im antiken Griechenland lebte und als Begründer der europäischen Fabeldichtung gilt.

Seine Fabel „Der Fuchs und die Trauben“ wird in der modernen Psychologie als Sinnbild für Kognitive Dissonanz verwendet:

Eine Maus und ein Spatz saßen an einem Herbstabend unter einem Weinstock und unterhielten sich.

Auf einmal zirpte der Spatz seiner Freundin der Maus zu: „Versteck dich, der Fuchs kommt!“ Dann flog der Spatz rasch hinauf in das Laub des Baumes.

Der Fuchs schlich sich an den Weinstock heran. Seine Blicke hingen sehnsüchtig an den dicken, blauen und schon überreifen Trauben.

Vorsichtig spähte er nach allen Seiten. Dann stützte er sich mit seinen Vorderpfoten gegen den Stamm, reckte kräftig seinen Körper empor und wollte mit seinem Maul ein paar Trauben erwischen.

Aber sie hingen zu hoch.

Etwas verärgert versuchte er sein Glück noch einmal. Diesmal machte er einen gewaltigen Satz, doch er schnappte wieder nur ins Leere.

Noch ein drittes Mal bemühte er sich und sprang mit aller Kraft nach oben. Voller Gier streckte er sich so sehr nach den üppigen Trauben, dass er auf seinen Rücken fiel.

Aber nicht ein Blatt hatte sich bewegt.

Der Spatz, der schweigend zugesehen hatte, konnte sich nicht länger beherrschen und zwitscherte belustigt: „Herr Fuchs, Ihr wollt eben zu hoch hinaus!“

Die Maus schaute aus ihrem Versteck und piepste vorlaut: „Gib dir keine Mühe, die Trauben bekommst du ja doch nie.“ Und geschwind wie ein Pfeil rannte sie in ihr Loch zurück.

Der Fuchs biss die Zähne zusammen, rümpfte die Nase und meinte hochmütig: „Die Trauben sind mir noch nicht reif genug. Und saure Früchte mag ich eben nicht.“

Mit stolzem und erhobenem Haupt ging er in den Wald zurück.

Dass der Beobachter dabei still in sich hineingrinst, hat einen guten Grund: Das Verhalten des kleinen Fuchses ist so durchschaubar – und zwar deshalb, weil jeder mitunter genau die gleiche Strategie anwendet. Man könnte es einfach Selbstbetrug nennen, aber die Forschung hat für das Bestreben, solche unangenehmen Situationen selbstwertdienlich auflösen zu wollen, einen schöneren Begriff gefunden: Kognitive Dissonanz. Der US-amerikanische Psychologe Leon Festinger führte Ende der 50er Jahre erste Experimente zu diesem Phänomen durch, das immer dann auftritt, wenn Verhalten und Einstellungen sich widersprechen und zu inneren Konflikten führen. Festinger und sein Kollege James Carlsmith testeten dies, indem sie Probanden bewusst unglaublich langweilige Aufgaben verrichten ließen.

Anschließend baten sie sie, die nächste Versuchsperson davon zu überzeugen, dass die Aufgaben im Test sehr interessant sein würden – eigentlich eine Anmaßung. Einer Gruppe gaben die Forscher für diese Lüge 20 Dollar, der anderen nur einen. Als sie später noch einmal nachhakten, stellte sich heraus: Die gut bezahlten Probanden blieben dabei, dass das Experiment sterbenslangweilig gewesen war.

Die schlecht bezahlten Probanden aber konnten dem Test plötzlich doch Gutes abgewinnen. Die aufgezwungene Lüge hatten bei allen einen Konflikt ausgelöst – doch während die gut bezahlten sagen konnten, sie hätten es fürs Geld getan, hatten die schlecht bezahlten keine passable Ausrede.

Die Konsequenz: Sie passten ihre Einstellung an ihr Verhalten an, um ihr bedrohtes Selbstbild – das eines ehrlichen Menschen – aufrecht zu erhalten.

Bernd M. Schmid
(Menschenrechtsverteidiger & Pazifist)

________________________________

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert